Opfer - Täter - Nichttäter
Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945-1955

ISBN 978-3-11-019134-9
Leseprobe
Vorwort
Dieses Wörterbuch ist das Nachschlagewerk zu der im Jahr 2005 erschienenen Untersuchung zum Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Es fasst die lexikalisch-semantischen Ergebnisse dieser Untersuchung in Form von Wortartikeln zusammen. Diese Wortartikel beschreiben diejenigen Wörter nach lexikographischen Prinzipien, die gleichsam das lexikalische Gerüst des Schulddiskurses darstellen. >Diskurs wird hier verstanden in rein thematischem Sinn als eine Sammlung von Äußerungen bzw. Texten unterschiedlicher Sprecher zu einem bestimmten Gegenstand innerhalb eines bestimmten Zeitraums, der eine oder mehrere Funktionen hat. Da es sich um einen kollektiven kommunikativen Akt handelt, ist ein Diskurs, als ein gesellschaftliches und historisches Phänomen, komplex und heterogen hinsichtlich der Beteiligten und ihrer den Diskurs konstituierenden sprachlichen Äußerungen. Der einen solchen Diskurs repräsentierende Diskurswortschatz ist sein lexikalisch-semantisches Potenzial. Er besteht aus, den komplexen semantischen Gehalt eines Diskurses komprimierenden lexikalischen Einheiten. Dieser Diskurswortschatz, der den Diskurs und seine Komplexität auf der lexikalischen Ebene reflektiert, wird in dem vorliegenden Wörterbuch dargestellt. Das Wörterbuch soll von einem vielschichtigen Leserkreis benutzt werden: von Linguisten, besonders Lexikographen und Sprachhistorikern, von Zeithistorikern, von Lehrern, Schülern und Schülerinnen, von Studierenden, und nicht zuletzt von Nichtlinguisten, die Auskunft darüber suchen, wie sich Zeitgeschichte sprachlich niederschlägt. Artikelaufbau >Der Aufbau der Artikel ist maßvoll standardisiert nach vier Abschnitten: Angesetzt ist das Hauptlemma, darunter werden gegebenenfalls die Ableitungen und Zusammensetzungen verzeichnet (z.B. frei/Freiheit/Befreiung/Selbstbefreiung). In seltenen Fällen werden hier auch bedeutungsverwandte, in einer begrifflichen Beziehung zum Hauptlemma stehende Lemmata angeführt, die keinen eigenen Artikel haben, sondern in dem Artikel zu dem Hauptlemma mit dargestellt sind (z.B. apokalyptisch/eschatologisch, Finsternis/Verfinsterung/dunkel/ Nacht, Krematorium/ Krematoriumskamin/Krematoriumsofen/Kamin/Ofen/ Schornstein, nominell/Mitläufer). Im Anschluss an diese Angaben des Hauptlemmas, der Wortfamilie und des Wortfeldes folgt der Hinweis auf die Sprecherperspektive Opfer, Täter oder Nichttäter. Gegebenenfalls wird die Sprecherperspektive der Nichttäter weiter ergänzt durch die Angabe des politischen Systems mit Ost bzw. West. Es folgt der Artikelkopf, der die semantischen, enzyklopädischen und Gebrauchs-Informationen enthält. Diese Informationen werden in narrativem Stil mitgeteilt, denn das Wörterbuch soll auch ein Lese-Buch sein. Die Informationen werden in der Regel gestützt mit Beispielen, die aus dem Belegteil stammen, also authentisch sind, die jedoch für die Verwendung im Artikelkopf u.U. gekürzt bzw. vereinfacht wurden. Im Anschluss wird durch die Angabe der Kurztitel auf die Belege im Dokumentationsteil verwiesen. Es wird nicht die gesamte Bedeutungsgeschichte eines Lemmas dargestellt und beschrieben, sondern nur der in den Jahren 1945 bis 1955 belegte und aus den Diskurstexten rekonstruierte Gebrauch. Am Ende des Artikelkopfs wird gegebenenfalls auf Sekundärliteratur verwiesen. Ein wesentlicher Bestandteil jeden Artikelkopfes ist die onomasiologische Vernetzung des Diskurswortschatzes durch Verweise. Diese Vernetzung bezieht sich auf begriffliche Bedeutungsrelationen, so wird z.B. im Artikel Abendland auf Kultur, Humanismus und Christentum verwiesen. Außerdem werden antonymische und hyperonymische Bedeutungsrelationen durch Verweise kenntlich gemacht. Im Artikel Angst wird z.B. auf Glück, im Artikel Antifaschist wird auf Kämpfer und Opfer verwiesen. Vernetzt werden darüber hinaus argumentativ relevante Lexemkomplexe. Im Artikel Befehl wird z.B. auf treu und auf Gehorsam verwiesen, weil diese Lemmata in denselben argumentativen Kontexten gebraucht werden. Synonymische Bedeutungsbeziehungen werden darüber hinaus auch ohne Verweise hergestellt, und zwar dann, wenn es sich um (Mehrwort-)Lexeme handelt, die keinen eigenen Artikel haben, die aber dennoch, wegen ihrer semantischen Serialität im Sinn von Ausdrucksalternativen, relevante Diskurselemente sind. So wird z.B. im Artikel Apathie die aus dem Korpus belegte Synonymik inneres Absterben, Abstumpfung des Gemüts, innere Wurstigkeit, Gleichgültigwerden, Lethargie, primitive Stufe dargestellt. Sie geht auch über die Wortartengrenze hinaus mit seelisch abriegeln, stumpf geworden, primitiviert. Wenn ein Lemma von Angehörigen verschiedener Sprecherperspektiven bzw. politischen Systemen gebraucht wird, besteht der Artikel wo nötig aus einem allgemeinen, einführenden Teil, dem sich dann der perspektiven- und systemgebundene Darstellungsteil anschließt (siehe z.B. den Artikel Demokratie). Ein dokumentierender Belegteil (auf den im Artikelkopf durch Quellenangabe verwiesen wird) schließt den Artikel ab. Die Belege weisen den jeweiligen Wortgebrauch im Kontext nach. Sie sind chronologisch angeordnet und über das Quellenverzeichnis erschließbar. Das begrifflich-semantisch komplexeste Zentrum des Schulddiskurses ist der Artikel zu dem Lemma Schuld. Er bildet den Zentralartikel des Wörterbuchs zum Schulddiskurs, denn dieser Artikel ist gleichsam dessen semantisches Kondensat, in dem die Linien des thematischen Netzes des Schulddiskurses zusammenlaufen. Umgekehrt wird von diesem Zentralartikel aus auf die lexikalischen Repräsentanten des Diskurses, unterschieden nach den drei Sprecherperspektiven, verwiesen. M.a.W.: In diesem Artikel ist die Ordnungsstruktur des Wortschatzes abgebildet, der den Schulddiskurs insgesamt realisiert, und zwar pragmatisch unterschieden nach den drei Sprecherperspektiven und onomasiologisch durch die Vernetzung des lexikalischen Bestands des Schulddiskurses. >Die zentrale Stellung des Lemmas Schuld im Diskurs spiegelt sich auf allen Darstellungsebenen wider: Es ist das in wortbildnerischer Hinsicht produktivste Lemma mit 42 Zusammensetzungen und Ableitungen. In Bezug auf die Diskursgemeinschaft ist es (neben Pflicht) das einzige diskursrelevante Lemma, dessen Gebrauch für alle drei Perspektiven signifikant belegt ist. Hinsichtlich der drei Diskursfunktionen ist Schuld dasjenige Lemma, in dessen Bedeutungsbeschreibung die Funktionen aller drei Subdiskurse einbezogen werden können. Hinsichtlich der semantischen Strukturen des Schulddiskurses ist Schuld dasjenige Lemma, in dessen Bedeutungsstruktur die semantische Struktur des Wortschatzes zum Schulddiskurs kondensiert. Vom Artikel Schuld aus wird auf alle Lemmata des Schulddiskurses verwiesen.
Antifaschist
Antifaschistisch antifaschistisch-demokratisch
Opfer
Nichttäter Ost

Opfer
Von politischen Opfern wird Antifaschist als Selbstbezeichnung gebraucht in der Bedeutung ,Angehöriger des politischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus', vor allem auf Kommunisten, seltener auch auf Sozialdemokraten bezogen. Als Kontrahenten des Nationalsozialismus ist das Selbstbild der Antifaschisten von dem des Kämpfers (^ Kämpfer) bestimmt, mit dem sie sich explizit von den von ihnen als ^ Opfer bezeichneten nichtpolitischen Gegnern des Nationalsozialismus abgrenzen (s. Eiden 1946, S. 213). Die Bezeichnung hat eine starke gruppenkonstituierende Funktion, vgl. Hunderttausende aktive Antifaschisten, wir Antifaschisten, wir deutsche Kommunisten und Antifaschisten, Solidarität der Antifaschisten. Als Angehörige derjenigen politischen Gruppierung, die in den Konzentrationslagern ihren Widerstand und Kampf gegen den Nationalsozialismus fortsetzen, organisieren sie innerhalb der Lagerselbstverwaltungen die Bildung illegaler Einheiten. Diesen fortgesetzten Widerstand deuten sie als charakterliche Stärke und Standhaftigkeit, vgl. die Verbindung aufrechter Antifaschist, und leiten daraus nach 1945 Ansprüche an der Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Aufbau ab: Wer durch die Hölle der deutschen Konzentrationslager als aufrechter Antifaschist gegangen ist, aus dem ist ein Kämpfer geworden, dem man getrost verantwortungsvolle Aufgaben im Neuaufbau des Lebens anvertrauen kann (s. Dahlem 1945, S. 265). Die adjektivische Ableitung antifaschistisch wird (häufig aus der Selbstsicht) verwendet als Eigenschaftsbezeichnung für Angehörige des politischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, besonders auf Kommunisten, seltener auch auf Sozialdemokraten bezogen, vgl. antifaschistische Häftlinge aus allen Ländern (s. Eiden 1946, S. 258f.). Wie Antifaschist wird auch antifaschistisch gleichsam als Legitimationsvokabel gebraucht, die, gedeutet im Sinn von ,charakterlich stark und zuverlässig', nach 1945 zum Nachweis von Ansprüchen an der Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Aufbau dient. Antifaschistisch ist Identifikationsadjektiv der Kommunisten und Sozialisten beim Aufbau des sozialistischen Staates, abgeleitet aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus als dessen radikales und konsequentes Gegenkonzept gedeutet, vgl. die Formulierung erprobte antifaschistische Kämpfer (s. Dahlem 1945, S. 252). Antifaschistisch ist darüber hinaus Bezeichnung für die gegen den Nationalsozialismus gerichtete politische Haltung, vgl. aus antifaschistischer Überzeugung, und für entsprechende Institutionen und Organisationen: antifaschistische Kampforganisation, antifaschistische Einheit (s. KPD 1945, S. 16; Eiden 1946, S. 258f.; Bock 1947, S. 19f.).

Nichttäter Ost
Als Kennzeichnung von Abstrakta wie Partei, Republik bezeichnet antifaschistisch (wie humanistisch, ^ Humanismus) eine zentrale Leitidee des sozialistischen Selbstverständnisses in der SBZ/DDR. Die westliche Entsprechung ist abendländisch (^ Abendland) und christlich (^ Christentum). Die Verbindung antifaschistisch-demokratisch (^ Demokratie) entspricht der westlichen Fügung freiheitlich-demokratisch (^ Freiheit) und verweist nach der Staatsgründung von 1949 im sozialistischen Selbstverständnis auf die DDR als erstem demokratischem Staat auf dem Weg in den Sozialismus, vgl. die Wendungen antifaschistisch-demokratische Republik, antifaschistisch-demokratische Parteien, antifaschistisch-demokratische Ordnung. Vgl. Felbick 2003, s.v. Faschismus/antifaschistisch; Brisante Wörter 1989, s.v. Faschismus; KpWb 1983, s.v. Antifaschismus

Opfer
Wir deutschen Kommunisten erklären, daß auch wir uns schuldig fühlen, indem wir es trotz der Blutopfer unserer besten Kämpfer .. nicht vermocht haben, die antifaschistische Einheit .. entgegen allen Widersachern zu schmieden. (KPD 1945, S. 16) Wir Kommunisten [bringen] aus den Konzentrationslagern ein Kapital an Zuversicht in die eigene Kraft und an allgemeinem Vertrauen mit, das uns befähigt und berechtigt, zusammen mit den erprobten antifaschistischen Kämpfern im Lande .. an die Arbeit zu gehen. (Dahlem 1945, S. 252)

(Heidrun Kämper (2006): Opfer - Täter - Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945-1955. Berlin, New York: de Gruyter. (Probeseite: Ausschnitt des Artikels Antifaschist))

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